Wir leben irgendwie in interessanten Zeiten

In der Türkei hat Erdogan die Wahl mit um die 52% gewonnen. Sagte zumindest erst er und dann die Wahlkommission. Eine Demokratie wandelt sich nun auf absehbare Zeit zu einem autokratischen Präsidialsystem.
Ein Mensch der sich vom Reformer zum Sultan wandelte. Zumindest kommt mir es wie eine Veränderung im Laufe seiner Regentschaft vor. Eine ehrliche Biographie über ihn dürfte hoch interessant sein.
Möglich, dass sowas wie in der Türkei – Autokratie, Medienkontrolle, erneute Unterdrückung von Minderheiten und Andersdenkenden, eine Wirtschaft die auf tönernen weil überschuldeten Füßen steht, sprich: ein modernes Sultanat – möglicherweise sich entwickeln konnte durch die Fehler der Vergangenheit. Möglich, nicht muß. Denn die Vergangenheit führt nicht automatisch in die Zukunft. Und 52% sind nun wirklich keine überwältigende Mehrheit für solch tiefgreifende Veränderungen. Es gab also auch keine Zwangsläufigkeit in diesem Moment der Geschichte.
52%. Das sind ja geradezu britische Verhältnisse. Mal ganz abgesehen davon wie gerecht es wohl sein soll, wenn Eingriffe mit derart generationenübergreifenden Auswirkungen von 50% plus 1 der wählenden – also prozentual an der Gesamtbevölkerung gemessenen weniger als 50% – Stimmenabgebenden entschieden werden und die restlichen 49,99% gefälligst diese Entscheidung mitzutragen haben; lässt sich bei einer gespaltenen Gesellschaft auf noch einfacheren Wege die Risse vertiefen als durch derart geregelten Wahlgängen? Die Spaltung vertieft sich. Sie zu kitten eine Aufgabe für Generationen. Aber warum hart und ehrlich an einer Gemeinschaft arbeiten wenn es doch soviel einfacher ist als Populist?
Manche leben in interessanten Zeiten. Ob sie wollen oder nicht.

In einem Land wie Deutschland braucht man nicht mal eine Krise um die Axt anzusetzen. Hier geht so wild zu das ein Nachrichtenportal wie spiegel online es die Meldung für erwähnenswert hält, wie ein Wagen mit einer überhöhten Geschwindigkeit von mehr als 100 Km/h in Hamburg über eine Brücke donnert bevor dieser von der Polizei gefasst wird. Leben in Deutschland ist so sicher, Tageszeitungen drucken Berichte über Mord, Raub und Unglück aus entfernten Städten auf ihre Seiten. Wahrscheinlich sollte man Trump dankbar sein über die Berichterstattung zur Sicherheitslage. Schade eigentlich wie Medien zuvor die vermeintlich wahrgenommene Angst der Menschen vor Gewalt in den Vordergrund rückten und Straftaten von Flüchtlingen oder Verdächtigungen diesbezüglich bevorzugt meldeten aber hier gibt es laut spiegel online ja auch eine „Kita-Krise“. Von einer Krise der sozialen Gerechtigkeit las ich noch nirgends. Naja, ist vielleicht auch nicht griffig genug als Headline. Und wenn man keine Krise merkt, dann macht man halt eine aus dem was einem am nächsten ist. Ob das zur Überwindung gesellschaftlicher Grenzen und mehr Gerechtigkeit und Gleichberechtigung beiträgt, wage ich zu bezweifeln.
Manchmal macht man sich halt seine interessanten Zeiten selber.

Doch auch in Deutschland ist der Trump-Stil schon seit längerem nicht unbekannt. Man nannte ihn halt nicht so. Zumindest ist die CSU nicht viel anders wie früher in den 80er als sie richterlich verfügte Lagerinternierung für AIDS-Erkrankte forderte. Wenn ich mich recht entsinne war das die Bezeichnung für HIV-Infizierte. Bei einer Partei in einem Bundesland, bei der es zum guten Ton gehört seit Jahrzehnten gegen Brüssel, Berlin und zuvor Bonn zu wettern, braucht man sich vielleicht auch nicht wundern wie es in Bayern mehr Reichsbürger als anderswo gibt. Bei einer entstandenen ernsthaften Konkurrenz am rechten Rand – wobei die AfD vielleicht auch nur deshalb wählbar ist, weil sie sich scheinbar glaubhaft vom Rechtsradikalismus abgrenzen und trotzdem noch NPD-Wähler abfischen können – Rand dann symbolhaft an der Trennung von Staat und Kirche zu kratzen, bei Kritik der Kirchen dann von Symbol und Tradition zu reden, um nicht lange danach so zu eskalieren das es zum Bruch in der Koalition kommen könnte, dies ist dann schon ein anderes Kaliber.

Man sollte meinen, auch Parteien können erwachsen werden. Bestimmte Provinzbengel schaffen es leider ewig rumzupubertieren. Nur diesmal sind sie dabei den Vogel abzuschießen. Mal sehen was ihnen noch einfällt bis zur Bayernwahl. Von dem Gezank der letzten Zeit bleibt was zurück. Nicht nur bei CDU und CSU. Auch das Vertrauen in die Fähigkeit von Politikern dürfte ganz allgemein gelitten haben. Verhältnismäßigkeit geht jedenfalls anders in Wort und Tat. Zumal wir nicht mehr 2015, 2016 oder gar 2017 schreiben. Ich halte es für möglich, daß inzwischen mehr Menschen im Mittelmeer absaufen als in Bayern über die deutsche Grenze kommen. Also den Rhein überqueren.
Nachdem was ich die letzte Zeit so alles mitnahm an dem was mir die Profis in Politik und Medien bieteten, wie soll ich da nicht zynisch sein?
Ein Satz, der mir seit Jahren im Gedächtnis präsent ist: Ein Zyniker ist ein enttäuschter Idealist. Ich weis leider nur nicht mehr von wen diese Worte stammen. Manchmal fällt es allerdings auch besonders schwer, die Dinge im richtigen Maß an sich ranzulassen. Da wollen Die extra Transitzentren an der Grenze einrichten. Als wenn wir im 16. Jahrhundert mitsamt dessen Personenbeförderungs- und Kommunikationsmöglichkeiten leben würden. Unterbringungsmöglichkeiten sollte es ja noch genug gäben. Wir hatten ja Flüchtlingskrise. Oder haben wir sie noch? Wenn wir, in diesem Land in der heutigen Zeit, Flüchtlingskrise haben, was hat dann der Libanon? Armageddon? Die Migration ist eine Herausforderung und Schicksalsfrage für die EU? Ach was, Deutschland hat ja nicht mal ein gescheites Einwanderungsgesetz. Soll ja diese Legislaturperiode noch kommen. Auch Dank SPD. Aber die nicken inzwischen ja alles ab. Inklusive „Asylpakt“. Weil man will ja nicht schuld sein.

So kommt es das dieser Beitrag zwar in der Kategorie Politik und Soziales erscheint, ich aber nicht gut und beherrscht genug bin um die Grenze zur Glosse nicht zu überschreiten. Die Zeiten sind zu interessant und zu viele falsche Fünziger unterwegs.

Europa baut Lager in Afrika, in die gerettete Bootsflüchtlinge zurückgeschickt werden sollen. Europa gibt mehr Geld aus, um seine Außengrenzen abzudichten. Europäische Staaten, die das wollen, bauen geschlossene Lager für Flüchtlinge. Europäische Staaten, die das wollen, nehmen Flüchtlinge aus diesen Lagern auf.“
Quelle: Spiegel online, 29.6.2018

So kann es kommen wenn nicht nur eine Gesellschaft, sondern ein ganzer Kulturkreis einen gewichtigen Teil seiner Ideale, seiner Überzeugungen verrät und den populistischen Marktschreiern der Politik hinterherhechelt, bzw. sich von ihnen kopf- wie herzlos treiben lässt. Wenn Politiker ihrerseits meinen „Volkes Wille“ ausführen zu müssen. Wenn sie auf Wahlpotenziale schielen. Wenn die alten Reflexe des politischen Diskurses und Lagerwahlkampfes auf einmal im Extremen ausschwingt.

Aus China soll ein Sprichwort kommen. eine Art Fluch. „Mögest du interessante Zeiten erleben“.
Ich wünschte es wäre langweiliger.

Epilog
Das einzige Gute daran wie dieser Text, fast unverändert, solange im Entwurf blieb ist, doch noch einen anderen Abschluss zu finden. Denn inzwischen zeigen Menschen in diesem Land das sie eben nicht ihre Werte vergessen haben, sondern nach wie vor dafür einstehen. Das es nicht nur die „üblichen Verdächtigen von Demonstranten“ sind, sondern es sehr wohl Kommunal- wie Landes- oder Bundespolitiker gibt, welche für Humanismus, Toleranz, Würde und Respekt eintreten. Und zwar über Parteigrenzen hinweg. Das sie nicht auf falsche Fünfziger reinfallen. Das heist nicht das dieses sogenannte Pendel der öffentlichen Meinung in eine andere Richtung ausschlägt. Nein, es bedeutet eigentlich nur das bestimmte Demagogen, ganz bestimmte Marktschreier, nicht mehr behaupten können das sie für die berühmt-berüchtigte schweigende Mehrheit sprechen. Und es zeigt wie wir doch noch ein gutes Stück weit weg sind vom der Trumpisierung dieser Gesellschaft und dem Orbanstil von Machtausübung. Diese Gesellschaft ist vielschichtiger und differenzierter als es vielen liebt ist. Ganz ungeachtet der jeweilige persönlichen politischen Einstellung dieser Vielen.
Das macht es hier dann doch noch auf eine besondere Art interessant zu leben, nicht unbedingt negativ wie im chinesischen Fluch. Denn es ließe sich viel Positives aus diesen gesellschaftlichen Diskurs gewinnen. Sofern er in bestimmten Formen geführt wird und Grenzen eben nicht überschreitet. Für gefährdendes Teenagergebaren ist diese Kultur und diese Nation dann doch schon zu alt.